Ossip Mandelstam: Gedichte - 0,0,Signaturen (2024)

„DasWort bleibt ungesagt, ich finds nicht wieder.

Dieblinde Schwalbe flog ins Schattenheim,

zumSpiel, das sie dort spielten. (Zersägt war ihr Gefieder.)

Tief inder Ohnmacht, nächtlich, singt der Reim.“

Was manhier vor sich hat, ist die Lyrik einer Krisenzeit und eines ihr ganzzugewandten Dichters; eines Dichters, dem nichts näher lag, als sich desDilemmas, des metaphysischen wie profanen, anzunehmen. Der es anscheinend alsseine Aufgabe begriff, mit Worten in diesem Dilemma nach etwas zu fahnden –keinem Trost, aber einer Wahrheit, etwas zum (Be)Greifen, Halten, Verwenden. Einemambivalenteren Blick auf das Formlose und Dunkle und, ja, vielleicht auch nachHoffnung.

In jedemFall: einer tiefen Sehnsucht. Diese Sehnsucht, auszubrechen aus dem Körper, ausden Gegebenheiten. Diese Sehnsucht freier zu sein, als ein Mensch unterMenschen sein kann; und doch könnte gerade diese Freiheit auch andere Menschenbefreien – ist das nicht die Hoffnung, die im Gedicht glimmt?

„DerChor der mitternächtigen Vögel,

durchsSchweigen schwimmend, ungehört.

An mirist nichts, ich gleich dem Himmel,

ich bin,wie die Natur ist: arm.

So binich, frei: wie jene Stimmen

derMitternacht, des Vogelschwarms.“

Und auchein Zorn ist da, ein schmaler, in dieser breiten Sehnsucht nur ein Vogelruf vonfern, aber immer gegenwärtig. Dieser feine Zorn schliff die Wahrheiten inMandelstams späteren Gedichten, über Armenien und die Verbrechen Stalins, zugut, und das bezahlte der Dichter mit dem Leben.

„Schuldlosist der Tod und keinem,

keinemkann geholfen sein.

Darumglühts, das Herz, in seinem

Nachtigallenschein.“

Diesekleine Auswahl umfasst Gedichte aus den ersten beiden Gedichtbänden „Der Stein“und „Tristia“ (und einige verstreute Gedichte aus der Zeit danach). Der letzteTitel lehnt sich an jenes gleichnamige Buch von Ovid, das seine Bittbriefe undGedichte aus dem Exil in Tomis enthält, in denen er immer verzweifelter seinerHoffnung Ausdruck gab, Augustus könnte sich besänftigt zeigen und er nach Romzurückkehren, bevor er sterbe. Doch er starb im Exil, unerhört.

Mandelstamlehnte sich nicht grundlos an Ovid an – im chaotischen Russland des frühen 20.Jahrhunderts war ihm der Status des Verbannten wohlbekannt und in seinenGedichten schwingt das Unerhörte immer mit. Wie bei anderen russischen (undinternationalen) Dichter*innen seiner Zeit, ist das Antike außerdem ein gerngenutzter Katalysator; Figuren und mythologische Verweise tauchen regelmäßig auf,manchmal wie ein Accessoire, manchmal als Dreh- und Angelpunkt.

„Ichweiß es, Nacht, ich geh dich wohl

nichtsan. Aus ihr, der Weltenschlucht,

geschleudert,eine Muschel, hohl,

lieg icham Rande deiner Bucht.

DuUnbeteiligte, du rollst

deinMeer, du hörst nichts, singst, singst fort.

Dochsie, die leer und unnütz ist, du sollst

sielieben, deine Muschel dort.“

Der Bandist aber nicht nur eine Mandelstam-Ausgabe, sondern auch eine PaulCelan-Ausgabe; es wurde allein aus den Übersetzungen geschöpft, die Celan zuMandelstams Werk angefertigt hat (obwohl im Fischer-Verlag auch die von RalphDutli übersetzte und editierte Gesamtausgabe vorliegt). Celan war allerdingsder Vorreiter auf dem Gebiet der Mandelstam-Übersetzungen, und der Band enthältauch das von ihm geschriebene Geleitwort zu der ersten Auswahl von Gedichtenaus dem Jahr 1959 (die mit diesem kleinen Band weitestgehend identisch seindürfte).

Celanwurde verschiedentlich für die Übergriffigkeit und Ungenauigkeit seinerÜbersetzungen kritisiert; es gab sogar Vorwürfe, dass er bei Übersetzungen dieGedichte zu „Celan-Gedichten“ machen würde. Obgleich ich die Akkuratesse undGenauigkeit seiner Übertragungen nicht beurteilen kann, scheint mir bei denGedichten Mandelstams zumindest der Vorwurf, es seien aus fremder Quellegeschöpfte Celan-Gedichte, ungerechtfertigt. Auch die Reime wirken oft aufgelungene Weise unprätentiös arrangiert und die Zweischneidigkeit und Tiefe derVerse erscheint mir zumeist erstaunlich klar hervorzutreten.

„DieStädte, die da blühn, sie mögen weiter

bedeutsamtun mit Namen und mit Schall.

NichtRom, die Stadt, lebt fort durch Zeit und Zeiten,

es lebtdes Menschen Ort – ein Ort im All.“

Der Ortim All, ein Paradies und ein Orkus. Mandelstam, dessen Essays man nur jedem ansHerz legen kann, der sein Verständnis von Poesie auf die eine oder andere Arterweitern will, war ein Sänger, der frei von Schönheit und Schrecken singenwollte, den sein Gesang aber band, fesselte, mitunter fast schon knebelte.

Dasklingt jetzt nach einer Überhöhung, nach einer Heiligsprechung. Es fällt miraber tatsächlich schwer, in Ossip Mandelstam etwas anderes zu sehen als denbedingungslosen Akteur für das Gute, Schöne und Wahre, gerade weil seineGedichte vom Schlimmen, von den Fratzen und Vernichtungen in der Welt berichtenund nur im Beiklang, in kleinen Gerüchen, in umhüllten Hoffnungsfunken, etwasanderes sagen und ankündigen.

Nichtzuletzt ist Mandelstam ein Dichter, der uns zeigt, wie man weiterdichtet indunklen Episoden und Epochen: engagiert, dem Dasein – ob schlecht, ob gut –zugewandt, und doch auf höchstem Niveau. Diese Verbindung ist ihm geglückt undsie glückt nur wenigen. Man kann ihn wegen seiner Kraft, aber auch nur wegenseiner Schönheit lesen.

„Wobeginnen?

Alleskracht in den Fugen und schwankt.

Die Lufterzittert vor Vergleichen.

KeinWort ist besser als das andre,

die Erdedröhnt vor Metaphern

[…]

DerKlang klingt fort, obgleich das, was ihn auslöste dahin ist.

EinPferd liegt im Staub, schaumbedeckt, schnaubend,

doch seinjäh gewendeter Hals

bewahrtnoch die Erinnerung an den Lauf mit weit

auseinandergeworfenenBeinen:

alsihrer nicht vier waren,

sondernso viele als Steine am Weg lagen“

Ossip Mandelstam: Gedichte. Übers. von Paul Celan. Frankfurt a.M. (Fischer Taschenbibliothek) 2017. 80 Seiten. 12,00 Euro.

Ossip Mandelstam: Gedichte - 0,0,Signaturen (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Msgr. Refugio Daniel

Last Updated:

Views: 5478

Rating: 4.3 / 5 (54 voted)

Reviews: 85% of readers found this page helpful

Author information

Name: Msgr. Refugio Daniel

Birthday: 1999-09-15

Address: 8416 Beatty Center, Derekfort, VA 72092-0500

Phone: +6838967160603

Job: Mining Executive

Hobby: Woodworking, Knitting, Fishing, Coffee roasting, Kayaking, Horseback riding, Kite flying

Introduction: My name is Msgr. Refugio Daniel, I am a fine, precious, encouraging, calm, glamorous, vivacious, friendly person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.